Das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius
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In der Westküstenstadt Portland im US-Bundesstaat Oregon nahm um etwa 1980 innerhalb weniger Wochen eine Legende ihren Anfang, an der sich auch heute noch die Geister scheiden. Es gibt eine Reihe Theorien und Erklärungen, die das Rätsel zu lüften scheinen. Dennoch bleiben die Geheimnisse um das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius hartnäckig bestehen.
In einigen Arcade-Spielhallen in Portland tauchten demnach zu der Zeit vereinzelte Arcade-Automaten auf, gänzlich in schwarz und lediglich mit dem Marquee-Schriftzug Polybius versehen. Sie wurden schnell zu einem Hit unter Jugendlichen, die nicht selten Schlange standen und auch vor Prügeleien nicht zurückschreckten, um daran zu spielen.
Allerdings schien das Spiel einige seltsame und mitunter gesundheitsgefährdende Effekte auf die Spieler zu haben. Und so plötzlich wie die Geräte aufgetaucht sind, so schnell waren sie nach wenigen Wochen wieder verschwunden.
Was ist das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius?
Polybius wurde angeblich von der Softwarefirma Sinneslöschen entwickelt. Es gibt allerdings wenig Hinweise darauf, dass diese Firma tatsächlich existiert. Ebensowenig wurde jemals ein Copyright für das mysteriöse Spiel gefunden.
Die existierende (äußerst antiquierte) Firmen-Webseite sinnesloschen.com sollte allerdings niemanden täuschen, denn es handelt sich dabei schlichtweg um ein Fan-Projekt. Die Entwickler dahinter haben versucht, das legendäre Polybius-Spiel anhand aller verfügbaren Informationen zu rekreieren. Es gibt einen Spiele-Download auf der Webseite.
Gameplay und Design
Der Spielablauf von Polybius, wie er von einigen Personen geschildert wurde, soll dem von Ataris Tempest ähneln. Kurz: Ein Shooter-Spiel. Der Spieler fliegt mit einer Art Raumschiff durch einen abstrakt gestalteten Tunnel.
Geometrische Formen und Farbfelder, stroboskopartige Lichteffekte und Einblendung unterschwelliger Nachrichten sollen das Gameplay geprägt haben. Dazu kommt eine dissonante Geräuschkulisse, welche die visuellen Effekte noch verstärkt haben sollen. Neben Geschicklichkeitsaufgaben soll Polybius auch Rätselelemente enthalten haben.
Auswirkung des Spiels
Es heißt, dass das Spielen an Polybius zu Migräne, epileptischen Anfällen, Halluzinationen, Gedächtnisverlust, Panikattacken oder sogar zu Hirnaneurysmen führen kann. Es soll auch angeblich Spieler zum Selbstmord getrieben haben. Umgekehrt heißt es, dass das Spiel einen euphorischen Zustand auslöst, in dem der Spieler keine Traurigkeit empfinden kann.
Tatsächlich gab es im Zeitraum, in dem Polybius in Portland aufgetaucht sein soll, mehrere Zwischenfälle in Arcades. Zum einen ist da Michael Lopez, der nach dem Spiel an Tempest unter starker Migräne litt. Am selben Tag erbrach sich der 12-jährige Brian Mauro mitten in der Spielhalle, nachdem er 28 Stunden lang das Game Asteroids zockte, um den aktuellen Spielrekord zu brechen.
Jeff Daily und Peter Burkowski sind zwei weitere Gamer, die buchstäblich einem Videospiel zum Opfer fielen. Beide spielten Berzerk, erreichten Highscores und beide starben an einem Herzinfarkt, allerdings mit etwa einem Jahr Abstand. Das Kuriose daran ist, dass sie nur 19 beziehungsweise 18 Jahre alten waren.
Bedeutungen des Spielenamens
Da es keine gesicherten Fakten über das Spiel selbst gibt, ist folglich auch sein Name ein Mysterium. Der offensichtliche Hintergrund dazu ist, dass der antike griechische Politker und Geschichtsschreiber Polybios Pate stand für den Namen des Arcade-Spiels.
Er ist bekannt als pragmatischer Historiker, der darum bemüht war, geschichtliches Geschehen stets genau zu analysieren und Zusammenhänge zu erkennen. Solide Quellen, persönliche Erkundigungen und Objektivität waren wichtige Grundlagen seiner Arbeit.
Abgesehen von seinem Wirken als Historiker und Politiker ist er auch für die sogenannte Polybios-Chiffre bekannt. Dabei handelt es sich um ein einfaches, aber sehr effektives System zur Verschlüsselung bei der Nachrichtenübermittlung. Durchaus passend für ein ungewöhnliches Videospiel also.
Woher kommt die Legende?
Gerüchte über Polybius sollen bereits Anfang der 1990er Jahre im Usenet herumgegeistert sein. Die erste gesicherte Erwähnung über Polybius gab es erst 2000, also beinahe 20 Jahre nach dem angeblichen Auftreten. Und zwar tauchte im August 2000 ein Eintrag auf der Webseite Coinop.org auf. Es ist eine Art Museumswebseite, die alles rund um Arcadespiele sammelt und online aufbereitet.
In einem kurzen Text werden die wenigen Informationen aufgezeigt, die es über das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius gibt, inklusive Foto und Screenshot. Außerdem gibt es hier einen Kommentarbereich mit einem Usereintrag, der Jahre später für hitzige Diskussionen sorgen sollte. Wir greifen dies weiter unten auf.
Das oben gezeigte grobkörnige Schwarz-Weiß-Foto eines angeblichen Polybius-Gerätes tauchte irgendwann 1998 auf. Es ist bis heute unklar, ob es eine raffinierte Photoshop-Arbeit ist oder ein echtes Foto sein könnte.
Theorien über Polybius
Geheimprojekt der CIA
Eine der ersten Verschwörungstheorien über Polybius war, dass es eine Fortführung des geheimen CIA-Projektes MKULTRA gewesen sein soll. Beim genannten Geheimprojekt zwischen 1953 und 1970 handelte es sich um den Versuch, eine Wahrheitsdroge im Rahmen von Verhörmethoden sowie Möglichkeiten zur Gedankenkontrolle und Gehirnwäsche zu entwickeln. Dazu wurden großflächige Menschenversuche durchgeführt, in der Regel ohne Wissen oder Einverständnis der „Teilnehmer.“
Projekt MKULTRA umfasste die Verabreichung von hochpotentem LSD und anderen Drogen, Folter sowie mitunter chirurgische Eingriffe ins Gehirn. Es war ein Nachfolger diverser anderer Projekte, nämlich von Operation Overcast im Jahr 1945, Operation Paperclip von 1945 bis 1959 und von der menschenverachtenden Operation Artischoke Anfang der 1950er Jahre.
In Bezug auf Polybius heißt es, dass die Versuche zur Gedankenkontrolle damit fortgesetzt wurden. Männer in schwarzen Anzügen sollen regelmäßig in den Spielhallen gesehen worden sein. Sie waren dabei aber nicht daran interessiert, den Münzbehälter zu entleeren, sondern vielmehr Daten vom internen Chip auszulesen. Laut Gerüchten handelte es sich bei diesen Männern um CIA-Agenten.
Rekrutierung von Supersoldaten
Doch wofür dieser Aufwand? Es heißt, dass das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius als Fortsetzung von MKULTRA dazu diente, Kandidaten für ein Supersoldaten Projekt zu finden. Was das erfolgreiche Spielen an dem Arcade beweisen sollte, außer vielleicht sehr gute Koordination zwischen Auge und Hand, bleibt jedoch offen.
Es ist allerdings kein Geheimnis, dass das Militär vieler Länder Computerprogramme für die Ausbildung nutzt. Daher klingt es sicherlich erst einmal durchaus glaubhaft, dass Polybius diesem Zweck diente. Es bleibt aber die Frage, warum es als Arcade-Spiel zum Einsatz kam. Es sprach damit zwar vielleicht potenzielle Rekruten in der passenden Altersklasse an, aber oft spielten eher jüngere Teenager an dem Game.
Mögliche Erklärungen
Erklärungsversuche und Theorien verschmelzen teilweise. Da es letztlich keine gesicherten Tatsachen über Polybius gibt, sind die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion fließend. Dennoch sind die möglichen Erklärungen wesentlich greifbarer und realistischer als die Theorie mit MKULTRA.
Stephen Roach und Sinneslöschen
Wir erwähnten zuvor schon Coinop.org und die Kommentare beim Eintrag zu Polybius. 2006 tauchte auf der schmucklosen Webseite ein Kommentar von einem gewissen Steven Roach auf. Er behauptet, einer der Entwickler des Spiels gewesen zu sein.
In seinem Kommentar beschreibt Roach, wie er 1978 zusammen mit anderen Hobbyprogrammierern die Firma Sinnenslöschen gegründet habe. Ein amerikanisches Unternehmen aus dem Süden des Landes (den Namen dürfe er aus rechtlichen Gründen nicht nennen) kam ihm zufolge 1980 auf das Team zu und beauftragte es, ein neues Spiel mit Rätselelementen und bisher nie dagewesener Grafik zu entwickeln.
Mit einem fürstlichen Honorar ausgestattet ging Sinneslöschen laut Roach ans Werk und stellte ein, ihrer Ansicht nach, geniales Spiel fertig. Bei Testläufen zeigt es jedoch die Effekte, die wir weiter oben im Artikel beschrieben haben. Die „Men in Black“ waren nach Steven Roach schlichtweg Firmenangestellte seines Auftraggebers, welche die Situation vor Ort in den Spielhallen beurteilten. Diese entschlossen sich demnach, alle Polybius-Geräte aus dem Verkehr zu ziehen, den Familien der betroffenen Jugendlichen eine Abfindung zu zahlen und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Steven Roach gab etwas später ein Interview, in dem er sein Wissen mit mehr Details teilte. Er zeigte sowohl im Kommentar auf Coinop.org als auch im Interview souveränes Selbstbewusstsein. Allerdings betrachtet die Spiele-Community seinen Kommentar als ausgedacht. Ein starkes Argument dafür ist, dass er den Namen seiner angeblich eigenen Firma Sinneslöschen jedes Mal auf verschiedene Weise falsch schreibt.
Men in Black
Die geheimnisvollen Männer in schwarzen Anzügen haben ihren Teil zum Aufbauschen der Legende beigetragen. Es gab die MIB tatsächlich, der Hintergrund ist jedoch keineswegs mysteriös. Die Bundespolizei FBI und die örtliche Polizei von Portland führte in den frühen 1980er Jahren Razzien in Arcade-Spielhallen durch. Die Gründe waren jedoch illegale Drogen, illegales Glücksspiel und manipulierte Videospiele.
Tempest und Prototypen
Eine unspektakuläre Erklärung, dafür aber sehr glaubwürdig, ist, dass es sich bei Polybius schlichtweg um eine Testversion von Ataris Tempest gehandelt hat. Außerdem hat es tatsächlich Berichte darüber gegeben, dass Spieler bei frühen Prototypen des Spiels mitunter Kopfschmerzen bekamen. Wie bereits weiter oben erwähnt, konnte auch die offizielle Version von Tempest unerwünschte Effekte haben.
Hinzu kommt, dass es tatsächlich üblich war, neue Spiele in geringer Anzahl in vereinzelten Arcades zu testen. Dies waren Prototypen der Games. Solche Testspiele wurden stets in schwarzen Gehäusen verbaut, denn Deko ist für Probespiele nicht wichtig. Oftmals deutete nur ein Marquee daraufhin, welches Spiel sich im Gehäuse verbarg.
Videospielautomat Poly-Play
Genauso wenig spektakulär ist die Vermutung, dass das ostdeutschen Videospiel Poly-Play für Polybius gehalten wurde. Der Schriftzug des Marquees könnte dieselbe Schriftart besessen haben und das unverzierte Gehäuse würde ebenso den Gerüchten entsprechen. Allerdings war der Spielname bunt gedruckt und das Gehäuse nicht schwarz, sondern aus Holz- oder Kunststofffurnier.
Poly-Play wurde zwischen 1986 und 1989 vom VEB Polytechnik im heutigen Chemnitz gefertigt. Er ist der einzige Videospielautomat aus der DDR. Es konnten mehrere Spiele gespielt werden (daher der Name Poly-Play), von denen die meisten Klone bereits existierender Spiele aus dem Westen waren. Dies allein spricht dagegen, dass das Gerät ein mysteriöses Spiel enthielt und um 1980 in die USA gelangt sein könnte.
Die meisten Poly-Play-Geräte, bis auf fünf, sind allerdings spurlos verschwunden. Dies könnte die Gerüchteküche wiederum angefeuert haben.
Cube Quest
Auch das Spiel Cube Quest wurde im Zusammenhang mit dem mysteriösem Spielautomaten genannt. Allerdings wurde es erst 1983 veröffentlicht, was sich nicht mit dem Zeitraum deckt, in dem das Arcade-Spiel Polybius angeblich existierte.
Außerdem erschien es als Laserdisk-Spiel und nicht als Arcade-Spiel. Ein Blick auf ein Gameplay-Video von Cube Quest zeigt jedoch deutliche Parallelen zum angeblichen Spielablauf und Design.
The Bishop of Battle
Wenn wir erneut den Zeitraum außer acht lassen, dann kann der Episodenfilm Nightmares aus dem Jahr 1983 die Legende um Polybius ausgelöst haben.
Die zweite Episode des Films „The Bishop of Battle“ dreht sich um J.J., der davon besessen ist, beim gleichnamigen Spiel Level 13 zu erreichen. Es gelingt ihm letztlich, aber er wird ins Spiel gesogen und fungiert als neuer „Bishop.“
Ob diese Episode des Films nun gut oder schlecht ist, sei dahin gestellt. Interessant ist jedoch, dass sich einige Elemente des fiktiven The Bishop of Battle mit Beschreibungen von Polybius decken.
Vielleicht stellt also der Episodenfilm die Grundlage für die Legende um das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius dar. Wenn wir das Veröffentlichungsjahr 1983 in Betracht ziehen, könnte es aber auch genau umgekehrt sein.
Die Mythbusterin Cat DeSpira
Seit Auftauchen der Legende von Polybius haben sich etliche Webseiten und Gaming-Magazine dem Thema angenommen. Spürnasen von überall her haben eigene Recherchen vorgenommen, aber dennoch konnte niemand gesicherte Fakten über das Arcade-Spiel aufdecken.
Die seriöseste Spürnase ist die heutige Online-Journalistin Cat DeSpira, die zu der Zeit in Portland lebte. Sie hat sich auf moderne Legenden und Popkultur des 20. Jahrhunderts spezialisiert. 2011 begann sie Nachforschungen anzustellen, die 2015 in ihrem fundierten Artikel mündeten. Wer des Englischen mächtig ist, sollte ihn unbedingt lesen.
DeSpira kam nach gründlichen Recherchen zu dem Schluss, dass das Spiel schlicht und einfach ein Internetschwindel sei. Allein aus technischen Gründen konnte Polybius nicht echt sein, da die erforderlichen Programmiergrundlagen zu der Zeit noch nicht möglich waren.
Woher die Polybius-Gerüchte letztlich kamen oder wer sie in die Welt setzte, kann sie nicht endgültig sagen. Jedoch hat sie aber eine äußerst plausible Theorie: Erst Anfang 2022 veröffentlichte sie ein Update, in dem sie Polybius mit einem weiteren Internetschwindel (die „Dybbuk Box“, Text auf Englisch) in Verbindung bringt. Der Urheber dabei ist Schauspieler und Produzent Kevin Mannis, von dem sie glaubt, dass er auch hinter Polybius steckt.
Ist Polybius nun real?
Obwohl das mysteriöse Arcade-Spiel Polybius wahrscheinlich nichts weiter ist als ein Internet Hoax, so tut dies der Geschichte jedoch keinen Abbruch. Sie passt definitiv in die Stimmung der 1990er und frühen 2000er Jahre. Das Aufkommen des Internets bot einen perfekten Nährboden für derartige Gerüchte.
Die Popkultur schnappte sich die Story und ließ sie nicht wieder los. In vielen Medien tauchen immer wieder Easter Eggs auf. Unter anderem sind dies neben dem Spiel von Sinneslöschen die Kult-Serie Die Simpsons („Homer, hol den Hammer raus“), die Serie Dimension 404 („Polybius“), ein PlayStation 4 Spiel („Polybius“), die Serie Loki („Reise ins Unbekannte“, Video auf Englisch) und der großartige Podcast The Polybius Conspiracy (englischsprachig) von Radiotopia.
Quellen:
- https://www.mentalfloss.com/article/539287/unraveling-legend-polybius-most-dangerous-video-game-1980s
- https://www.eurogamer.net/articles/2015-05-22-polybius-the-story-behind-the-worlds-most-mysterious-arcade-cabinet
- https://www.escapistmagazine.com/legend-or-urban-legend-the-tale-of-polybius/
- https://1e9.community/t/verschwoerungsmythos-polybius-wie-viel-wahrheit-steckt-in-der-legende/5692
- https://www.atlasobscura.com/articles/the-urban-legend-of-the-governments-mindcontrolling-arcade-game
- https://www.coinop.org/Game/103223/Polybius
- http://web.archive.org/web/20080507174244/http://bitparade.co.uk/modules/articles/article.php?id=21
- https://web.archive.org/web/20180113125855/https://de.sputniknews.com/panorama/20180113319038539-psychische-kontrolle-computerspiele/
- https://www.retrogames.info/arcade/show/426
- https://www.arcade-museum.com/game_detail.php?game_id=11344
- https://www.reddit.com/r/venturebros/comments/4bosvt/death_by_berzerk_january_of_1981_jeff_dailey_died/?utm_source=share&utm_medium=web2x&context=3
- https://retrobitch.wordpress.com/2015/10/29/reinvestigating-polybius-with-2015-update/
- https://retrobitch.wordpress.com/2022/01/04/polybius-update-likely-connection-to-2003-dybbuk-box-hoax/
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