Dienstag, 30. April 2024

Psychodynamik: Kann Freud Antworten zur Spielsucht liefern?

Ölgemälde von Benigne Gagneraux "Der Blinde Ödipus befiehlt seine Kinder den Göttern" Spielsucht eine Spätfolge des Ödipuskomplexes? Freudsche Theorien aus heutiger Sicht (Bild: Gemälde von Benigne Gagneraux "Der Blinde Ödipus befiehlt seine Kinder den Göttern"; Photo: Erik Cornelius / Nationalmuseum/CC BY-SA 4.0)

Könnte die Spielsucht bei Erwachsenen die Folge eines nicht bewältigten Ödipuskomplexes in früher Kindheit sein? Oder ist die Sucht nach dem Glücksspiel gar eine Form der Selbstbestrafung? In einem am Mittwoch in der italienischen Psychologie-Fachzeitschrift State of Mind veröffentlichten Artikel [Seite auf Italienisch] wird diesen „Freudschen Fragen“ nachgegangen.

Sigmund Freud Begründer der Psychoanalyse

Haben Freuds Theorien zur Spielsucht heute noch einen Platz in der Forschung? (Bild: Pixabay)

Die Autorin, die Psychologin Marta Rebecca Farsi, begibt sich dabei auf die Suche nach alternativen Erklärungen zur Entstehung von Spielsucht. So gebe es in der Wissenschaft zwar zahlreiche Theorien und Ansätze, aber auch unzählige offene Fragen. Wenig Aufmerksamkeit erhielten dabei die Perspektiven aus der Psychoanalytik und Psychodynamik.

Eine kuriose Sichtweise aus vergangenen Zeiten

Während Farsi ihre eigene Position zum Thema offen lässt, macht sie einen Querschnitt durch die Theorien und Schriften bekannter Psychoanalytiker, Psychiater und Psychologen. Neben Sigmund Freud beruft sie sich u.a. auf Ralph Greenson, Sharon Stein und Richard J. Rosenthal. Was diese Namen gemeinsam haben:

Sie sehen im exzessiven Glücksspiel einen Akt der intuitiven Selbstbestrafung und Selbstzerstörung. Sie beschreiben das Spielen als einen Kampf zwischen Es, Ich und Über-Ich. Und sie erklären es als ein alternatives Ausleben eines im Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex unterdrückten Sexualtriebes.

Sigmund Freud (1856 – 1939) gilt als Begründer der Psychoanalyse. Seiner Theorie zufolge entspringt das gesamte menschliche Handeln unterbewussten sexuellen Trieben. Diesen stehen jedoch die gesellschaftlichen Normen entgegen. Der Mensch ist daher bemüht, sein „Ich“ zwischen dem „Es“ (den Trieben) und dem „Über-Ich“ (den Normen) in Balance zu halten.

Eine weitere bekannte, von Freud entwickelte Theorie betrifft den Ödipuskomplex. Freud zufolge durchläuft jeder Junge zwischen drei und fünf Jahren eine Phase, in welcher er sich zur eigenen Mutter hingezogen fühlt und den eigenen Vater daher als Feind sieht und zerstören will.

Was haben nun Es, Ich und Über-Ich oder der Ödipuskomplex mit Spielsucht zu tun? Laut einer von Freud 1924 vorgestellten Überlegung könnte das exzessive Glücksspiel ein Ventil für Männer sein, die die frühkindliche ödipale Phase nie überwunden haben. Der Wunsch, den Vater zu zerstören, verwandle sich in den unterbewussten Wunsch, sich selbst zu zerstören.

Gleichzeitig empfinde der Mann unterbewusst Scham für die Anziehung zur eigenen Mutter und wolle sich für diese bestrafen. Diese Strafe bestehe aus der „Erniedrigung und sich immer wiederholenden Niederlage“, die beim Glücksspiel durchlebt würden. Spielsuchtprobleme bei Frauen scheint Freud bei seiner Theorie dabei nicht bedacht zu haben.

In seinem 1928 veröffentlichtem Essay „Dostojewski und die Vatertötung“ über den Schriftsteller Fedor Dostoevskij [Frühere Schreibweise: Fjodor Michailowitsch Dostojewski] fasst Freud seine Spielsucht-Theorie anschaulich zusammen:

Er wußte, die Hauptsache war das Spiel an und für sich, le jeu pour le jeu. […] Er ruhte nie, ehe er nicht alles verloren hatte. Das Spiel war ihm auch ein Weg zur Selbstbestrafung. Er hatte ungezählte Male der jungen Frau sein Wort gegeben, nicht mehr zu spielen […] und er brach es […] fast immer. Hatte er durch Verluste sich und sie ins äußerste Elend gebracht, so zog er daraus eine zweite pathologische Befriedigung. Er konnte sich vor ihr beschimpfen, demütigen, sie auffordern, ihn zu verachten, zu bedauern […] und nach dieser Entlastung des Gewissens ging dies Spiel am nächsten Tag weiter.

So ungewöhnlich die Freudschen Erklärungsversuche im Angesicht moderner Spielsuchtforschung auch klingen mögen, Freud scheint mit diesen keineswegs allein dagestanden zu haben.

Wie Farsi ausführt, habe sich auch Greenson der Theorie Freuds angeschlossen. Dieser sei noch einen Schritt weiter gegangen und habe die von Spielern durchlebten Gefühle von Aufregung und Spannung mit sexueller Erregung verglichen.

Spielsucht eine kindliche Phase? Theorien im späteren 21. Jahrhundert

Nennenswert nach Ansicht Farsis sei auch die von Sharon Stein 1989 mitverfasste Studie „Zwanghaftes Glücksspiel: Theorie, Forschung und Praxis“ [Compulsive gambling: Theory, research, and practice]. In dieser beschreibt Stein das pathologische Glücksspiel als ein „Feststecken in einer kindlichen Phase“.

Es handelt sich um eine Entwicklungsphase – zwischen zirka 6 und 12 Jahren – in welcher Handlungen nicht auf Basis potenzieller schädlicher Konsequenzen bewertet werden, sondern auf Basis einer oberflächlichen Bewertung, die sich auf das Wohlgefühl durch die Handlung und das Fehlen von Hinderung an ihrer Ausübung begrenzt.

Laut Stein blendeten Spielsüchtige die Möglichkeit von Verlusten beim Spiel bzw. deren negativen Folgen für den Spielenden weitgehend aus. Dabei entstehe das Gefühl, „unbesiegbar“ zu sein und das Schicksal austricksen zu können.

Ähnlich habe sich Anfang der 1990er Jahre auch der Psychologe Richard J. Rosenthal positioniert. Laut diesem sei die Spielsucht ein Ausdruck des Bedürfnisses, das Schicksal herauszufordern und sich „omnipotent“ zu fühlen.

In den letzten zwanzig Jahren scheinen die Theorien zur Psychodynamik und Spielsucht wenig Platz in der Forschung zu finden. Heute untersuchen Forscher insbesondere die Vorgänge in bestimmten Hirnregionen, die während des Glücksspiels pathologischer Spieler zu beobachten sind.

Ob Freud und Co. in Zukunft wieder eine Rolle in der Spielsucht-Forschung spielen könnten, bleibt somit überaus fraglich.