Dienstag, 23. April 2024

„Komplex, politisiert und ineffizient“: Verheerendes Zeugnis für Schweizer Glücksspielwesen

Bern Schweiz Flaggen Avenir Suisse zeichnet ein düsteres Bild des Schweizer Glücksspielwesens (Quelle:unsplash.com/Mortaza Shahed)

Der renommierte Zürcher Think Tank Avenir Suisse kritisiert das Schweizer Glücksspielwesen in einer aktuellen Veröffentlichung als „politisiert, ineffizient und überholt“.

Als besonders problematisch beschreiben die Autoren die engen Verflechtungen von Glücksspiel und Staat und fordern eine nachhaltige Reform des Systems. Diese, so der Vorschlag der Forscher, solle auch eine direkte Rückverteilung von Glücksspielerträgen an die Bevölkerung beinhalten.

Spannungsfeld Glücksspiel-Regulation

Mit einem über 80-seitigen Bericht hat die Denkfabrik Avenir Suisse in dieser Woche eine Debatte über den Umgang mit dem Glücksspiel in der Schweiz angestoßen.

Unter dem Titel Glück im Spiel, Patzer in der Regulierung setzen sich die Autoren Jürg Müller und Basil Ammann detailliert mit dem Glücksspielwesen in der Schweiz auseinander und ziehen ein ernüchterndes Fazit der aktuellen Situation.

Dem Bericht zufolge sei die Schweiz momentan nicht in der Lage, Antworten auf die ihrem Glücksspielsystem innewohnenden Interessenkonflikte zu finden. So bestünden gesellschaftliche Erwartungen an das Glücksspiel, die sich in einem ständigen Spannungsfeld bewegten.

In der Schweiz sind die Kantone für das Angebot von Lotterien, Sportwetten und Geschicklichkeitsspielen zuständig. Die Spielbanken fallen in den Einflussbereich des Bundes.

Zum einen existiere in der Bevölkerung eine große Nachfrage nach attraktiven Glücksspiel-Angeboten. Zum anderen erfordere ein funktionierender Spielerschutz eine maximal sichere und sozialverträgliche Gestaltung des Glücksspiels.

Hinzukomme, dass durch das Glücksspiel generierte Gelder der öffentlichen Hand zugutekämen, also auch finanzielle Bedürfnisse der Gesellschaft bedienten.

Der Staat als Anbieter, Regulator und Profiteur

Bei jeder der drei Fragen nehme der Staat eine andere Rolle ein, so die Forscher. So gehe es ihm als Anbieter darum, Menschen mit attraktiven Angeboten zum Spiel zu bewegen.

Gleichzeitig sei es seine Aufgabe, das Angebot zu regulieren, um den Spielerschutz sicherzustellen. Zusätzlich profitiere er in großem Maße von den zu errichtenden Glücksspiel-Steuerabgaben.

Avenir Suisse Schaubild Glücksspielwesen Schweiz

Avenir Suisse sieht den Staat in Glücksspielfragen in chwierigen Dreifachrolle (Quelle:avenir-suisse.ch)

Dass es bei dieser Dreifachrolle zu Schwierigkeiten komme, sei unausweichlich. Die Haltung der Autoren in dieser Hinsicht ist eindeutig. Sie führen im Bericht aus:

Aus ordnungspolitischer Sicht ist klar, dass es die Rolle des Staates auf jene des Regulators zu reduzieren gilt. Diese Rolle kann kein anderer gesellschaftlicher Akteur übernehmen, da es hier um eine hoheitliche Wahrnehmung übergeordneter Interessen geht. Die beiden anderen Rollen sind in diesem Zusammenhang keine zwingenden Staatsfunktionen und deshalb abzulegen.

Auch die fortschreitende Digitalisierung der Schweizer Glücksspiellandschaft habe die Position des Staates dem Bericht zufolge nicht gestärkt. Vielmehr sähen sich die Regulatoren nicht mehr nur mit „klassischen Online-Casinos“ konfrontiert, sondern vermehrt auch müssten sich auch der Herausforderung des Umgangs mit Blockchain-basierten Glücksspielen auseinandersetzen.

Das historisch gewachsene System der dualen Glücksspielregulierung auf Bundes- und Kantonalebene führe zudem zu Kompetenz- und Interessenkonflikten.

Glücksspiel-Reform in drei Schritten

Müller und Ammann kommen zu dem Schluss, dass das Schweizer Glücksspielwesen dringend einer Reform bedürfe. Hierzu stellen sie eine dreiteilige Agenda vor, die das System „ins 21. Jahrhundert überführen“ könne.

Zunächst solle der Staat seine Beteiligungen an Glücksspielanbietern zurückziehen und die Verteilung von Geldern von der Politik abkoppeln. Eine Möglichkeit hierzu sehen die Autoren in der direkten Rückverteilung der Einnahmen an die Bevölkerung.

Ausgehend von Daten aus dem Jahr 2019 bedeute dies jährlich rund 115 CHF pro Kopf und bringe deutliche Vorteile gegenüber einer zweckgebundenen Verteilung der Gelder oder deren Einfließen in den allgemeinen Haushalt:

Eine Rückverteilung der fiskalischen Erträge aus dem Glücksspiel an die Bevölkerung würde schließlich einer grundlegenden Reform des Glücksspielwesens Bahn brechen. Werden die Gelder erst einmal entpolitisiert, schwinden nämlich mit den Interessenkonflikten auch die Beharrungskräfte an den veralteten Strukturen.

Um die weitere Förderung von Kultur und Sport zu gewährleisten, sei in dieser Hinsicht auch eine Verteilung der Gelder in Form zweckgebundener Gutscheine denkbar.

Weiter sprechen sich die Analysten für eine Stärkung der Rolle des Regulators durch eine Verschlankung des Systems aus. Statt die „verflochtenen und komplexen“ Institutionen von Bund und Kantonen nebeneinanderlaufen zu lassen, gelte es, die Aufsichtsorgane von landbasiertem und Online-Glücksspiel zusammenzuführen. Dies behebe die Problematik von „Doppelspurigkeit und unnötigen Konflikten“.

Online-Glücksspiel von Spielbanken abkoppeln

In einem dritten Schritt könne nach der institutionellen Bereinigung ein neues Rahmenwerk für die Regulierung geschaffen werden. In diesem Kontext sprechen sich die Autoren für einen modularen Ansatz aus.

Empfehlenswert sei die Vergabe einer Basislizenz und weiterer Bewilligungen, die auf das gewählte und speziell zu regulierende Spielangebot zugeschnitten seien.

Dies bedeute den Verzicht auf das aktuell geltende „Analog-first“-Prinzip, nachdem Online-Lizenzen ausschließlich an Betreiber von Schweizer Spielbanken vergeben werden. Den Autoren zufolge könne so Raum für eine technologie- und wettbewerbsneutrale Regulierung geschaffen werden.

Bislang haben sich weder die nationale Eidgenössische Spielbankenkommission (ESBK) noch Glücksspiel-Vertreter der Kantone öffentlich zu dem Bericht der Avenir Suisse geäußert. Ob die Forderungen des Think Tanks auf Gehör stoßen werden, scheint indes fraglich.

Erst in dieser Woche entschied der Schweizer Bundesrat auf Anraten der ESBK künftig zwei weitere Lizenzen zum terrestrischen Spielbankbetrieb zu vergeben. Reformbestrebungen lassen sich hieraus nicht ableiten.